Wunden, singen, heilen

“Moments of clarity are so rare” — “Vulnicura” ist ein Tagebuch. Die Chronik einer Trennung. Björk schreibt auf, was in ihren seelischen Abgründen brodelt. Tiefster Schmerz, Wut, Verzweiflung, Hoffnung stecken in den Zeilen des Tagebuchs. Warum lässt Björk jeden darin lesen? Menschen machen das normalerweise nicht. Sie verstecken es an Orten, an denen niemand es findet.

“Show some emotional respect!” ist eine Aufforderung an Künstler Matthew Barney. Neun Monate vor der Trennung liest man den ersten Tagebucheintrag “Stonemilker”. Björk versucht mit aller Kraft eine Wand zu durchbrechen. Aber sie arbeitet sich ab an einem Mann, der nicht über seine Gefühle spricht. Die Mühen waren umsonst, denn Steine kann man nicht melken. “Stonemilker” ist der erste der drei Songs, die die Zeit vor der Trennung beschreiben. Drei erzählen das Danach, die letzten drei sind auf keine Zeit festgelegt.

Dritter Tagebucheintrag [3 month before]: “I wake you up / in the night feeling / this is our last time together / … / the history of touches / every single archive / compressed into a second”. In “History of Touches” gibt es einen Moment der völligen Klarheit. Björk weiß, dass es vorbei ist. Sie beschreibt das eindrücklich, unmissverständlich, unmittelbar. Da sind keine Schnörkel oder kunstvollen Chiffren in den Textzeilen. “They’re so teenage, so simple” sagt Björk in einem Interview mit dem Pitchfork-Magazin. Als sie anfing, “Vulnicura” zu schreiben, kämpfte sie noch gegen diese Einfachheit. Das Thema sei zu langweilig, zu berechenbar. Natürlich, Herzschmerz ist das beliebteste Thema in der U-Musik. Wie viele 08/15-Popsongs handeln von Trennungen und zerbrochenen Herzen? Doch was Björk macht, ist keine U-Musik. Sie schwebt irgendwo zwischen dem E und dem U. Sie füllt keine Worthülsen, sondern man nimmt ernst, was sie sagt – das ist unmittelbar und völlig überzeugend, weil man fühlt, dass es wahr ist. Für sie ging es nur so und nicht anders. Auch in der Musik. Das ist bewundernswert.

“Black Lake” [2 months after]: “i am one wound / my pulsating body / suffering being”. Für Björks Gefühle gibt es keine anderen Worte als diese. Ein Stich ins Herz immer und immer wieder. Unter dem Schmerz schwelt aber noch etwas anderes: Wut gegenüber dem Anderen und tiefste Enttäuschung. Sie sagt, sein Herz sei leer, er hätte nichts zu geben.

Die Musik ist auf zehn Minuten ausgedehnt, Björks Schmerz eingebettet in einen Streicherteppich, der genauso simpel genäht ist, wie ihr Text – aus ein paar Akkorden, die sich mehr und mehr verdichten und mit elektronischen Klängen mischen. Eine Sequenz wird immerzu wiederholt, die Akkorde der Streicher lange gehalten, dazwischen ausgedehnte Pausen. Björk singt eine immer gleiche Melodie auf die Silben, sie fällt ständig nach unten. Es gibt keine Hoffnung. Die Zeit bleibt stehen, und irgendwann ist es ein Bad in der Traurigkeit.

2011 führte Björk ein Interview mit dem estnischen Komponisten Arvo Pärt. Sie bewundert seinen musikalischen Minimalismus, dass er dem Hörer Raum gäbe in seiner Musik zu wohnen. Pärt brauche nicht 5 Millionen Noten, sondern wenige und alle an ihrem ganz besonderen Platz. Für Björk ist das Musik für jeden. Sie ist auch eine Minimalistin. Die beiden sprechen über die gleichen Dinge.

Die Streicherklänge auf “Vulnicura” werden alle von Isländern erzeugt. Schon 1997, als Björk “Homogenic” aufnahm, war das so. Auch die Elektronik-Streicher-Kombination ist ähnlich. Allerdings sind es jetzt fünfzehn Streicher, fast die doppelte Besetzung. Sie musste noch einen Schritt weiter gehen. “When I did this album – it all just collapsed. I didn’t have anything. It was the most painful thing I ever experienced in my life. The only way I could deal with that was to start writing for strings…”, sagt Björk. Sie beschreibt den Prozess als eine Operation an sich selbst. Eine öffentlich zur Schau gestellte, aber wohl eine notwendige.

Sie lässt in ihrem Tagebuch lesen, man darf teilhaben, aber nur wenn man ihr kostbares Werk würdigt. »Musikpiraten« taten das nicht. Sie verbreiteten “Vulnicura” schon Wochen vor der geplanten Veröffentlichung in Internet-Tauschbörsen. Björk reagierte schnell und veröffentlichte ihre Platte am nächsten Tag und nicht erst im März. Und ihr kostbares Gut behütet sie sorgfältig. Auf Spotify, dem kostenlosen Musikstreaming-Dienst, gibt es “Vulnicura” noch nicht lange zu hören. Auf YouTube gibt es keine privaten Veröffentlichungen des Albums, nur offizielle: Da ist “Lionsong“mit dem passenden Musikvideo, in dem das Albumcover zu leben anfängt, wenn Björk im  gleichen schwarzen Latexanzug und Fransen-Heiligenschein tanzt.

Siebter Tagebucheintrag “Atom Dance” [keine Zeitangabe]: “enter the pain and dance with me / we are each others hemispheres”. Plötzlich gibt es einen Schnitt, zu Streicher- und Elektronikklängen kommt eine zweite Stimme, eine männliche. Man merkt, dass ganz plötzlich ein Schalter umgelegt wird, es hat sich etwas verändert. Die beiden tanzen miteinander und Björk schüttelt die Schmerzen ab. Die Wunde fängt an zu heilen, weil sie anfängt zu akzeptieren. Vulnus heißt zwar Wunde, aber cura ist Heilung.

“When I’m broken i am whole / and when I’m whole I’m broken” – neunter und letzter Tagebucheintrag.

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