Suchend im imaginären Raum

Foto: György Ligeti (gemeinfrei)
Foto: György Ligeti (gemeinfrei)

In der Musikgeschichte wird in großen Zeitabschnitten gerechnet. Die historisch relevanten Taten und Werke der großen Meister verteilen sich auf zurückliegende Jahrhunderte. Zehn Jahre sind dagegen ein wirklich überschaubarer Zeitraum. Und trotzdem zählt der 12.06.2006 zu einem wichtigen Ereignis der jüngeren Musikgeschichte. Die Musikwelt verliert einen besonderen und prägenden Komponisten. Um wen es sich handelt? Quizfrage: es ranken sich Gerüchte um die richtige Aussprache seines Vornamens, seine Musik ist einzigartig, egal ob atmosphärisch schwebend oder makaber und skurril. Na? Genau: György Ligeti.

Der internationale Durchbruch gelang Ligeti 1961 mit dem Werk Atmosphères. Im Nachhinein betrachtet, reflektiert dieses Werk sein stilistisches Schaffen wohl am treffendsten. Über eine Spanne von fünf Oktaven soll jeder Ton nahezu gleichzeitig gespielt werden: Rhythmus und Melodie kumulieren zu einer wabernden Klangfläche. Spätestens seit Stanley Kubrick dieses Werk in seinem Film 2001: Odyssee im Weltraum verwendet hat, ist es nicht nur weltberühmt, sondern lässt Bilder des unendlichen Alls vor dem Inneren Auge entstehen, gespickt mit unzähligen schimmernden Sternen und der grenzenlosen, allumfassenden Dunkelheit.

Doch der Zenit seines künstlerischen Outputs ist 1961 noch lange nicht erreicht. Er probiert, konstruiert, verwirft, zweifelt und schafft Neues – aber der seriellen Musik fühlt sich Ligeti zu keiner Zeit verbunden. Auch die ständig wachsenden technischen Hilfsmittel und der elektronische Fortschritt, fließen trotz der inspirierenden Zusammenarbeit mit Karlheinz Stockhausen in den Jahren 1957/58 nur bedingt in Ligetis musikalisches Werkzeug ein, nur drei Werke komponiert er für und mit Elektronik. Allerdings sind seine weiteren Vokal- und Instrumentalwerke oft durch die Denkweise der elektronischen Musik beeinflusst. Auf gar keinen Fall bekommt seine Musik dadurch aber etwas statisches oder binäres. Allenfalls rein äußerlich könnte bei einigen Kompositionen der Eindruck eines stehenden Gebildes entstehen. Doch darunter verbirgt sich eine ungeahnte Komplexität, die Ligeti durch Mikropolyphonie und Polyrhythmik zu einem größeren Ganzen verschmelzen lässt, als würde unter dem Offensichtlichen immer eine myzelartige Vielfalt verborgen bleiben: “Sogar abstrakte Begriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vorgänge erscheinen mir versinnlicht und haben ihren Platz in einem imaginären Raum.” Ein Komponist sinniert hier über seine Musik. Oder sogar über sein eigenes Wesen, welches selbst kaum zu fassen ist?

Ligetis Grabstein in Wien (flickr/Simon)
Ligetis Grabstein in Wien (flickr/Simon)

Die Konstruktion und genaue “Berechnung” der Musik wird zum grundlegenden Kompositionsprinzip der späten Klangästhetik Ligetis. Wer diese musikalische Intelligenz als emotionslos einordnen möchte, sollte sich stattdessen mit dem Concert Românesc oder der Sonate für Cello Solo vertraut machen. Das leidenschaftliche und emotionsgeladene Werk für Cello zeigt einen musikalisch nachempfundenen Dialog zwischen Mann und Frau, wobei die einzelnen Personen beliebig austauschbar scheinen. Der 2. Satz Capriccio überlagert durch seine Wucht den intensiv-sinnlichen ersten Satz, was dieses Solostück zum herausragenden Showcase der cellistischen Virtuosität werden lässt.

Wer die Wurzeln von Ligetis musikalischer Entwicklung in seiner Herkunft zu finden versucht, hat es ebenfalls nicht leicht. Dabei bahnt sich manch einer gerne den Weg entlang des Wurzelgeflechts, um zu erklären warum ein Komponist nun seinem Stil entsprechend komponiert oder eben nicht. Um die Metapher der Wurzel weiter zu bemühen, muss es bei Ligeti wohl eine tiefgreifende, weit verzweigte und großflächige Wurzel gewesen sein: Ein jüdischer Ungar, in Rumänien geboren, mit  österreichischer Staatsbürgerschaft, der viele Jahre in Deutschland und den USA verbrachte. Ein regelrechtes Myzel an musikalischen und kompositorischen Einflüssen. 1923 geboren, als Kind des 20. Jahrhunderts blieb die Wirkung von weltpolitische Katastrophen und Wirrungen auf György Ligetis künstlerisches Ich natürlich nicht aus. Es wird vielmehr schwieriger seine Musik im Ganzen zu lesen und interpretieren. Es scheint einfacher durch die lupenartige Betrachtung einzelner Werke ein annäherndes Bild des Komponisten zu zeichnen. Trotz oder gerade deshalb umgibt seine oft unergründliche Musik ein Schleier der Faszination, welche leider oft durch den subjektiven musikästhetischen Geschmack nicht erkannt oder entdeckt werden will. Stattdessen sei empfohlen, sich den abstrakten Gegensätzen zwischen Konstruktion und musikalischer Freiheit zu stellen, oder den zu Mut haben, sich der alles umgreifenden Musik zu ergeben. Ob Ligeti den von ihm zitierten imaginären Raum ausschöpfend erfassen konnte, kann er uns seit 10 Jahren leider nicht mehr beantworten. Der Weg dahin lässt sich aber zumindest in den Kompositionen von György Ligeti erahnen.

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