Mixtape No.15: #FuckTheGenre!

Dies ist eine Playlist zum Thema Systemkritik.

Aber was ist Systemkritik überhaupt?

Ich habe versucht Künstler diverser Sprachen und Genres zu Klang und Wort kommen zu lassen. Es soll eine bunte Mischung von direkter und indirekter, süffisanter und verborgener Kritik sein: Eine Konfrontation mit aktuellen Problemstellungen, die durch die Stücke selbst oder ihren Kontext veranschaulicht werden.

Systemfehler Wirtschaft

Bereits im Jahr 2009 thematisiert der britische Singer-Songwriter Charlie Winston im Track In Your Hands die Probleme von Geflüchteten. Er erzählt die Geschichte einer Person, die aktiv versucht ein besseres Leben aufzubauen und doch nur passiv dabei zusehen kann, wie es von Mitmenschen gesteuert wird. Auch 11 Jahre später ist dieser Song so relevant wie eh und je.

Die bittere Kehrseite dazu zeigt Rapper Ansu in seinem Song Wert. Hier geht es nicht um das Minimum an Selbstbestimmung, sondern um das ultimative Maximum: Wieviel Materialismus ist für eine Gesellschaft zu viel? Ist mehr wirklich mehr? Oder ist mehr weniger wertvoll? Was brauchst du um in einer Gesellschaft wie unserer klarzukommen?

Auf diese Frage findet auch die japanische Punkrock Band CHAI keine direkte Antwort. Viel mehr geben sie mit ihrem Song Great Job einen zynischen Kommentar zur traditionellen Frauenrolle ab: Egal, wie viel Stress und Erniedrigung du erleiden musst, putze sie einfach weg. Wenn du deinen Ehemann enttäuschst, musst du es beim nächsten Mal besser machen. Sei nicht langweilig. Get Power, fresh feeling!

Systemfehler Gesellschaft

Dead Dolphin Sounds ‘aid brain growth in unborn child’ virtual therapy / nature healing 2 hours: Was ein Titel für einen 10-minütigen Song. Hinter diesem Meisterwerk von Überschrift steckt scharfe Kritik: Sie ist eine Anspielung auf einen Artikel über die Förderung von Embryos durch Delfin-Geräusche. Der Song zeigt die Resignation gegenüber einer Welt, die zu viele Probleme hat, um sich mit ihnen überhaupt auseinanderzusetzen. Stattdessen schwimmt man im Nichts der pulsierenden Beats, ohne Anhaltspunkt, ausweglos.

Einen ähnlichen Ansatz hat K.Flay in ihrem Song Champagne, aber statt Schockstarre erleben wir hier den Ausdruck von Resignation durch Reizüberflutung: Statt tatenlos der Welt zuzusehen, schaltet man diese einfach ab. Ein kompletter Trip in 2 Minuten 12, mit Anfang, Höhepunkt und abrupter Bewusstlosigkeit bei Abbruch der Lyrics.

Noch prägnanter gibt dieses Phänomen die koreanische Band Hyukoh in ihrem Lied Wanli (万里: Tausende von Meilen; weit weg) wieder. Der Begriff Wanli kann auch homonym für einen Kaiser der chinesischen Ming-Dynastie stehen. Aufgrund der Geräuschkulisse einer marschierenden Armee zu Beginn und Ende des Songs, scheint dies beabsichtigt zu sein. Die Wanli Ära war gekennzeichnet durch erhebliche außenpolitische Krisen und Verschwendungssucht. Gleichzeitig gilt sie als eine kulturelle Blütezeit. Diesen Widerspruch findet man auch im vierzeiligen Songtext, grob übersetzt:

Das Licht des Mondes vor uns ist herausragend

Die Schiffe auf See können wir nicht sehen

Das gestern Bereute ist vergessen

Die Probleme von heute sind gänzlich vergessen

Obwohl sich der Text auf eine historische Situation bezieht, kann man die Relevanz für die heutige Zeit nicht leugnen: In Anbetracht der berauschenden Dinge des Lebens verlieren wir unser Zeitgefühl. Wir lernen nicht aus Gestern und ignorieren das Heute. Vollkommen ahnungslos existieren wir in einer Bubble, während eine Bedrohung von Außerhalb über uns schwebt.

Systemfehler Politik

Eines der wohl aussagekräftigsten Statements, was Musizierende machen können, ist die Verweigerung von Klang. Bei der Recherche zu systemkritischer Musik, die auch ohne den Zusatz von Text auskommt, stößt man relativ schnell auf den spanischen Cellisten Pau Casals. Als Gegner des damaligen Franco Regimes verweigerte er Konzertanfragen in jedem Land, welches diese Regierung anerkannte. Obwohl das spanische Volkslied El cant dels Ocells nicht von ihm ist, setzt es doch ein klares politisches Statement, als er es 1961 im Weißen Haus vor J.F.Kennedy spielt: die Anerkennung eines Verbündeten im Kampf um Freiheit.

Politische Systemkritik ist natürlich auch in argumentativer Form zu finden. Und was eignet sich bestens für hitzige Diskussionen? Richtig, HipHop. Im Song Nobody Speak von DJ Shadow feat. Run The Jewels spielt das Rapper-Duo devil’s advocat. Wir hören einen zynischen Kommentar zu politischen Debatten, eine Art musikalische Schlammschlacht, wenn man so will. Keine wirklich konstruktiven Argumente sind in diesem Fall mit stichhaltiger Kritik an Politik und Medien gleichzusetzen.

Diese Playlist gibt keine Antworten, nur Widerworte.

Ende des 18. Jahrhunderts wurde vor allem in Deutschland die Idee der absoluten Musik etabliert. Eine Musik, die unabhängig von politischem oder gesellschaftlichem Kontext, einzig und allein für sich selbst stehen soll. Nicht jede Musik ist direkt politisch, wirtschaftlich oder sozial kritisch. Trotzdem entsteht sie als Kunstform aus der Gesellschaft heraus und muss im Kontext ihrer Zeit gesehen werden. Als Zeitgeist-Produkt kann sie ein wichtiges Instrument der Systemkritik sein.

Der Musik diese Aussagekraft zu nehmen, ist so wie einer Sprache die Bedeutung ihrer Worte abzusprechen. Alles was dann übrig bleibt ist wertloser Klang.

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