Kritik unter Freunden

Fast ganz oben, recht mittig, sitze ich im Dilemma. Da unten haben eben Kommilitonen, Freunde aus dem Uniorchester zwei Stunden lang Musik gemacht. Vieles war schön, einiges nicht. Mir bleibt die Wahl: Kritik schreiben oder nicht? Wo liegt in diesem Fall der so kleine Balancepunkt zwischen Kritik und Lob?

Um mich herum wird laut geklatscht, ein paar Sitze weiter johlt jemand laut. Auf der Bühne fallen sich Dirigent, Pianistin und Chorleiterin in die Arme. Sie haben sich das Lob verdient, so wie auch die anderen Musiker und Chorsänger. Hinter ihnen liegt ein anspruchsvolles Programm: Aaron Copland, Tschaikowsky, Dvorák und Beethoven. Während ich mit den vielen anderen Zuschauern aus dem Saal bummle, gehe ich im Kopf die Stücke des Abends durch.
 


Copland und Tschaikowsky

„Quiet City“ von Copland klappte ganz gut. Klar, da kiekste es mal, der ein oder andere Einsatz kam etwas ungleich, aber das ist alles verzeihbar. Das Stück zog mich mit seiner starken Atmosphäre direkt in’s Konzert hinein. Ich erinnere mich vor allem an die gespannte Ruhe im vollen Audimax, die ich von anderen Konzerten mit professionellen Orchestern nicht immer kenne. Als das Stück verklang, war die Konzentration immer noch zu spüren. Einzig die Lüftung nahm keine Rücksicht – laut rauschend begleitete sie das ganze Konzert und war oft lauter als das Publikum. Das ist schade, aber das Audimax ist nun mal kein Konzert- sondern ein Vorlesungssaal.

Dann kam der erster Applaus, Umbau, zweites Stück: Tschaikowskys „Fantasieouvertüre zu Romeo und Julia“. Nur holprig kam sie in Fahrt. Die große Anstrengung dem Tempo zu folgen, war dem Orchester anzumerken, obwohl sich alle redlich bemühten. Das Werk ist allerdings auch deutlich anspruchsvoller. Vielleicht zu anspruchsvoll. Doch für kurze Zeit passte alles haargenau – als sich in einem besonderen Moment das Stück plötzlich erhob und lauter wurde. Becken und große Trommel meldeten sich zusammen mit einigen Blechbläsern zu Wort, während die Streicher auf und ab wimmerten. Ich merkte den Sog erst, als mehrere Takte später wieder einige Streicher nicht auf dem gleichen Ton waren und den Bann brachen.

Dvorák und Beethoven

Die sehr romantische „Waldtaube“ von Dvorák regte nach der Pause blühende Phantasien in mir an. Auch wenn es eigentlich um eine tragische Beziehung geht, habe ich die Taube flattern und gurren gehört, wie ich es mir nicht kitschiger ausmalen könnte. Während ich der Märchenkiste mit glockengleicher Triangel, flirrender Flöte und hüpfenden Streichern lauschte, schaute ich auf den blau lackierten Stahl um mich herum. Ich sah die klappbaren Holzsitze und die großen Tafeln an der Wand hinter dem Orchester. Ich hörte die so kitschige Musik, hinter mir eine umfallende Bierflasche. Der Moment entwickelte seinen eigenen Charme. Dass ich da zwischen all den Verwandten und Freunden als Kritiker und gleichzeitig Kommilitone saß, verstärkte in mir das Gefühl von merkwürdigen Gegensätzen.

Dann durfte der Chor auf die Bühne und im groß erweiterten Kreis wurde das Finale des Abends erarbeitet. Beethovens „Chorfantasie“ beschloss ausdrucksstark das Konzert. Unichor und -orchester standen sich dabei auf Augenhöhe und wirkten gut aufeinander abgestimmt.

 

Als ich später meine Haustür aufschließe, weiß ich, dass ich ein gutes Konzert eines Orchesters gehört habe, bei dem sich alle engagiert haben. Ich fühle mich etwas komisch, weil ich nicht weiß, wie ich über meine Mitstudenten schreiben soll, aber freue mich, dass sie gemeinsam eine große Herausforderung bewältigt haben.

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