Der singende Evangelist

balthasar-neumann-chor_und_-ensemble__c_florence_grandidier300dpiFotos: Florence Grandidier

Ein singender Evangelist, der Geschichten erzählt, dabei das Publikum direkt anspricht und dem großen Ganzen dient: Solist Tilman Lichdi erfüllte am Sonntag alle Erwartungen.

Er, Thomas Hengelbrock und das Balthasar Neumann-Ensemble samt Chor bringen im Dortmunder Konzerthaus das Weihnachtsoratorium auf die Bühne. Aber stopp, nicht ganz, denn es werden nur die Teile eins bis drei aufgeführt. Die Ouvertüre des Abends ist ein Stück von Jan Dismas Zelenka. Ein inspirierender Kniff, der alles neu erstrahlen lassen soll, aber nicht ganz aufgeht.

Thomas Hengelbrock und seine historisch informierte Gruppe kommen alle Jahre wieder. Inzwischen sind Dortmund und Hengelbrock alte Bekannte, am Sonntag war es wieder so weit.

Er durchstöberte sämtliche Quellen, lässt Darmseiten aufspannen und sorgt dafür, dass die Cellisten ihr Instrument mit den Schenkeln festklammern, statt sie auf den Stachel zu stellen. Moderne Blasinstrumente weichen ihren barocken Vorgängern. Das alles war zu Bachs Zeiten üblich, Hengelbrock und Ensemble sehnen sich nach dem Originalklang.

Ein vierstimmiger Chor mit drei Männer- und zwei Frauenstimmen

Insgesamt nur 26 Stimmen füllen den Chor, der im Klang schlank und sauber agiert. Sopran, Alt, Tenor und Bass bedeuten im Regelfall zwei Männer- und zwei Frauenstimmen. Im Konzert vom Sonntag ist eine Stimmgruppe geteilt: Zwei Altistinnen und drei Countertenöre singen gemeinsam die Alt-Stimme. Das hat Einfluss auf die Klangfarbe. Meistens aber fällt das im komplexen Klangkonstrukt nicht ins Gewicht; nur dann, wenn man einen der Countertenöre etwas heraushört. Das passiert manchmal Alex Potter. Seine Stimme ist klar und schwebt durch den Raum, er singt seine Solopartien schnörkellos, aber gefühlvoll. So wie er treten noch acht weitere Chorsänger und Chorsängerinnen solistisch hervor. Einzig der Evangelist ist ein „Externer“: Tenor Tilman Lichdi gilt als Spezialist auf dem Gebiet des Oratoriengesangs. Die Zuhörer im Konzerthaus konnten sich davon überzeugen. Lichdis Auftritte und Rezitativ-Interpretationen zeichnen sich durch eine Schlichtheit aus, wirken durch die Klangintensivität aber berührend und durchdringend. Für Momente kommt der Eindruck auf, Lichdi würde nicht singen, sondern erzählen. Er spricht direkt zum Publikum, kommuniziert seine Inhalte und erreicht eine neue Dimension des Märchenonkels – wobei er keine Märchen erzählt, sondern die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel. Ziel erreicht!

Weniger ist mehr: Das setzen die acht Chor-Sopranistinnen angenehm um. In ihrem gemeinsamen Solo singen sie ohne Vibrato mit etwas mehr Luft und erinnern tatsächlich an kindliche Engelein.

Thomas Hengelbrock führt sein Orchester sicher und ohne Unvorhersehbares, durch die drei Kantaten. Er stimmt Phrasierung, Klangfarben und Lautstärke von Chor und Orchester fein ab, wodurch eine Ausgewogenheit entsteht, in der auch die einzelnen Instrumentengruppen harmonieren. Einzig die Oboen geraten ab und an ein wenig ins Schlingern.

Foto: Florence Granddidier
Foto: Florence Granddidier

Unter all das Historische mischt sich Irritation, Bachs Weihnachtsoratorium wird nicht komplett aufgeführt. Das ist kein Einfall von Hengelbrock, sondern Tradition. Aber Traditionen könnte man brechen und stattdessen das Werk über mehrere Abende verteilt als Gesamtes präsentieren. Denn gerade das Dortmunder Konzerthaus will Komplexes bieten. Dieses Vorhaben erzieht das hiesige Publikum hin zu Mehrteiligem und Zyklen, zuletzt mit Teodor Currentzis und seiner Interpretation von Mozarts Da Ponte-Opern.

Vollends ins Stutzen kommt man, wenn das Magnificat D-Dur von Zelenka attacca in die jubilierenden Klänge des Weihnachtsoratoriums übergeht. Erst dann nämlich tun die Musiker es: Sie jauchzen und frohlocken! Diese Art, die beiden Stücke zu kombinieren, funktioniert aufgrund der Schlusswirkung des Magnificats nicht ganz. Es hätte vermutlich nach den Kantaten besser gepasst.

Zum Schluss gab’s noch zwei Bach-Zugaben: „Jesu bleibet meine Freude“ und „Ich steh an deiner Krippen hier“. Ein wirklich runder Abend, aber auf dem Wunschzettel für nächstes Jahr stehen dann die Kantaten vier bis sechs und somit auch mehr Abwechslung.

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