Sokolov.

Selbst schon Silbersee: Grigory Sokolov

Selbst schon Silbersee: Grigory Sokolov
Foto:
AMC Verona

Nach der fünften oder sechsten Zugabe hörten wir auf zu zählen. Es spielte auch keine Rolle mehr. Das hier konnte immer weiter gehen, denn der Mann, der mit den immer genau gleichen Bewegungen abging und wiederkam, hatte den Sinn für Zeit und Zählen ausgehebelt. Die Frage blieb: Wie?

Man konnte ihm einen ganzen langen Abend auf die Finger starren und doch keine Antwort finden, wie er das macht. Ein Klavierton entsteht doch auch bei Sokolov nicht anders, als indem ein Hämmerchen auf gespannte Saiten trifft. Es handelt sich um einen mechanisch vermittelten Impuls, ein perkussives Schallereignis, zu dessen Grundeigenschaften es gehört, dass es einerseits nach dem Anschlag von Laut zu Leise verklingt, zweitens, anders als ein Geigenton, durch die zwischen Finger und Saite geschaltete Technik des Indirekten gefiltert, einen weitgehend neutralisierten Ton hervorbringt, weshalb Farb-Unterschiede Grenzen haben.

Nun starrten wir auf Sokolovs Hände und versuchten zu verstehen, warum es diesmal anders klang, warum man sicher glaubte, diesen Ton künftig unter allen anderen heraushören zu können, weil er das Ohr und erst das Hirn und dann das Herz mit einer Genauigkeit trifft, die annähernd schmerzt. Man möchte ja, wenn er es so will und einen Einzelton herausmeißelt, weil er ihn wichtig findet, in Deckung gehen vor seiner Intensität. Und ist es physikalisch nicht doch unmöglich, dass ein Klavierton nach dem Anschlag lauter wird? All das aber geschah. Eine Bachpartita (die erste) spielte er wie ein sehr guter Schwimmer seine Bahnen zieht. Dann Beethoven, Sonate D-Dur Nummer 7, ein Meisterstück, das sich unter den früheren Sonaten gut genug versteckt, dass nicht jeder Rampenspieler sie im Gepäck hat, und wir fragten uns, ob der Bachbahnenschwimmer nun auch vom Beethoven-Zehner springen werden würde.

Tatsächlich sprang er, und wieder geschah etwas physikalisch Unmögliches: Der Turmspringer flog, flog langsam, und blieb, etwa in der Mitte des zweiten Satzes (Largo e mesto), nach dem Abheben aus tiefem Grimm, für einen langen, langen Moment einfach in der Luft schweben. Wir schauten uns an, denn eigentlich geht das gar nicht.

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