Renaissance einer Verlorenen

„Auf Schatzsuche“ lautet das Motto des diesjährigen KLANGVOKAL Musikfestivals in Dortmund. Und einen verschollenen Schatz gab es im Orchesterzentrum tatsächlich zu hören: Claudio Monteverdis Tragedia in musica L’Arianna. Eigentlich ist die Partitur der Oper bis auf das bekannte Lamento der Arianna vollständig verloren, aber das Libretto von Ottavio Rinuccini und einige Quellen über Monteverdis Komposition sind noch erhalten. Auf diesem Fundament baut Claudio Cavina, Countertenor und künstlerischer Leiter des auf Renaissance- und Barockmusik spezialisierten Ensembles La Venexiana seine Rekonstruktion der Arianna auf. Ergänzt durch Musik aus anderen Werken Monteverdis, sowie durch Cavinas eigene Kompositionen ist eine knapp zweistündige Oper in elf Szenen entstanden, die nun in konzertanter Form ihre öffentliche Weltpremiere erlebte.

Das Ensemble La Venexiana

Die Musik hebt an – feierlich aufspielend und doch mit harmonischer Zartheit. Im Prolog wendet sich Apollon, Gott der Musik, direkt an das Brautpaar Herzog Francesco IV. von Mantua und Isabella von Savoyen, zu deren Hochzeit Monteverdi das Stück 1608 komponierte. Der Bariton Fulvio Bettini interpretiert diese Ansprache voller Autorität: Erhaben lenkt er seine Schritte über die Bühne und hält das Brautpaar mit würdevoller Stimme dazu an, nach dem Beispiel der antiken Helden eine gute und fruchtbare Ehe zu führen. In dem darauffolgenden Gespräch zwischen Venus und ihrem Sohn Amor klingt das sich anbahnende Drama bereits an. Venus (Francesca Lombardi Mazzulli) ahnt, dass die Beziehung zwischen Theseus und Ariadne unter keinem guten Stern steht. Mit zartem Sopran bittet Lombardi Mazzulli Amor (Countertenor Filippo Mineccia) um Hilfe, der ihr stimmlich wie darstellerisch mit großem Gestus versichert, die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen.

Vor diesem Happy End aber steht ein langer Weg des Leidens. Raffaella Milanesis (Ariadne) Gesicht ist bereits zu Beginn sorgenvoll, sie trauert um Eltern und Heimat, die sie für Theseus verlassen hat. Der vermag sie nur bedingt zu trösten und verlegt sich eher auf Liebesschwüre und tenorales Schmachten, das Riccardo Pisani mit samtweicher Stimme gestaltet. Die Entscheidung, Ariadne auf der griechischen Insel Naxos zurückzulassen, trifft Theseus nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Einflüsterungen seines Beraters. Luca Dordolo interpretiert diesen Charakter mit drängenden, aufbrausenden Akzenten, die sich zunehmend steigern. Theseus‘ zurückhaltender Part kann kaum dagegen ankommen: Er lässt sich von seinem Berater überreden und segelt samt Gefolge Richtung Athen. Ariadne bleibt am Boden zerstört zurück.

Die Trauer der verlassenen Königstochter drückt Raffaella Milanesi mit jeder Faser ihres Körpers aus. Schon bevor sie zu singen beginnt, wandelt sie wie ein verlorener Schatten von ihrem Platz hinter dem Orchester an die Rampe, ihr Gesicht wie eine gemeißelte Statue voll stiller und doch übergroßer Trauer. Milanesis Darstellung der Ariadne bleibt würdevoll, trotz aller Qualen und Demütigung ist ihr Verhalten das einer Prinzessin, deren Leid sich nicht in unkontrollierten Ausbrüchen entlädt. Dementsprechend ist auch ihre Interpretation des Lamentos. Eingeleitet von wehklagenden Streichern beginnt sie ihre Klage mit den Worten „Lasciatemi morire!“ („Lasst mich sterben!“), die sie nicht zaghaft und gehaucht, sondern als entschlossenen Befehl gestaltet. Ihre Ariadne leidet und weint, aber sie zerfließt nicht im eigenen Selbstmitleid, sondern generiert aus ihrer Trauer eine würdevolle Stärke und Entschlossenheit, die in ihrer Kraft umso mehr berührt. In der tiefen Gewissheit, dass Theseus nicht zurückkehren wird („So leicht ändern Könige ihre Absichten nicht“), spiegeln ihre Augen einen permanenten Vorwurf, der schließlich aus ihr hervorbricht und in Milanesis lang gezogenen Crescendi seinen Höhepunkt findet.

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Raffaella Milanesi (Arianna)

Ariadne leidet nicht in vollkommener Einsamkeit. Laut Libretto wird ihre von einem Generalbass begleitete Wehklage – wie in dieser Fassung – vom Chor der Fischer und Ariadnes Gastgeberin Dorilla (Emanuela Galli) kommentiert. Diese stärker an der Szene orientierte Komposition erzeugt eine ganz eigene, bedrückende Atmosphäre. Ariadnes Leid ist nicht länger nur subjektiv auf sie selbst beschränkt, sondern erweitert sich auf die ganze Insel, die mit ihr trauert. Ihr Schicksal wird vom Ensemble La Venexiana unter der Leitung von Davide Pozzi einfühlsam begleitet, an manchen Stellen bedarf es allerdings einer feineren Abstimmung zwischen Solisten und Orchester.

Dorilla ist Ariadnes positiver Gegenpol. Mit freundlichen Worten, die Emanuela Galli mit heller, mädchenhafter Sopranstimme interpretiert, versucht sie, die Verlassene aufzumuntern und ihr neuen Mut zu geben. Sie ist es schließlich auch, die Ariadne dazu überreden kann, zum Strand hinunterzugehen, an dem neue Schiffe angelegt haben. Es ist Bacchus mit seinem Gefolge, der Naxos erreicht hat und sich in Ariadne verliebt. Diese verliebt sich, von Amors Pfeil getroffen, ebenfalls in ihn und hat ihre Seelenqual schnell vergessen: „Über jede menschliche Sehnsucht hinaus ist ein Herz gesegnet, das einen Gott zum Trost hat.“ Ariadnes Versuch, sich nach Theseus Abreise im Meer zu ertränken, sowie ihr Zusammentreffen mit Bacchus, lässt Monteverdi von jeweils einem Boten schildern, die den Fischern von Ariadne berichten. Fulvio Bettini und Alessio Tosi gestalten ihre Erzählungen sehr lebendig und voller Anteilnahme an Ariadnes Trauer und später an ihrem neu gefundenen Glück. Im Finale öffnet Salvo Vitale als Jupiter mit respekteinflößendem Bass den Himmel für das glückliche Paar, in den Luca Dordolo als Bacchus seine Geliebte mit liebevollen Worten hineinführt.

Fotocredits:

Bilder „La Venexiana“: © Kaupo Kikkas

Raffaella Milanesi: © Alex Amengual

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