Denkmalpflege

Das ChorWerk Ruhr bei der Ruhrtriennale: Renaissance und Neue Musik auf Zeche Zollern

©flickr.de/Polybert49
©flickr.de/Polybert49

Kaum vorstellbar! Vor sechzig Jahren wurde hier noch Steinkohle zu Tage gefördert. Wie laut, wie schmutzig es gewesen sein muss. Heute ruhen die roten Backsteingebäude der Zeche Zollern in stiller Erhabenheit. Die Maschinenhalle ist das Herzstück: Eine Fachwerk-Konstruktion mit sanft geschwungenen Linien, Details im Jugendstil, große Fenster, manche davon farbig leuchtend. Weniger erinnert dieses Gebäude an die Rohheit eines Bergwerks, vielmehr blickt sie würdevoll wie eine Kirche auf uns hinab.

De Victoria, Cage, Feldman: Das ChorWerk Ruhr unter Florian Helgath füllt diese Dortmunder Industrie-Kathedrale mit Musik der Renaissance und des zwanzigsten Jahrhunderts, und nennt sein Programm für die Ruhrtriennale “Memoria”. Die Klänge von Tomás Luis de Victorias “Officium Defunctorum” hallen einige Sekunden in der Maschinenhalle nach, bis sie sich zwischen den Stahlträgern verlieren. Diese Totenmesse setzt Kaiserin Maria von Spanien ein Denkmal und wird 1603 zu den großen Trauerfeierlichkeiten uraufgeführt. Der Komposition liegt ein gregorianische Choral zu Grunde, den de Victoria nach allen Regeln des Kontrapunktes verkomponiert. Mal imitieren sich die einzelnen Stimmgruppen, dann laufen sie, kunstvolle Haken schlagend, voneinander weg, verflechten sich und stimmen schließlich gemeinsam den Schlussakkord in Dur an. Die Stimmen mischen sich fantastisch, schieben sich ineinander zu einem zarten, durchscheinenden Klanggebilde, dass man nur andachtsvoll betrachten kann. Denn jede kleinste Bewegung, jedes minimalste Geräusch könnte es schon zerstören. Wenn dann einzelne Stimmen herausblitzen oder plötzlich der gesamte Chor im Offertorium zurück tritt, einen ganz intimen Klang schaffend, sind das erhebende Momente. Und sie zeigen, wie überraschend eine Komposition der Renaissance, vermeintlich einem strikten Kompositionsgerüst verpflichtet, klingen kann.

      Ausschnitt aus Four² von John Cage - ChorWerk Ruhr

Ein paar hundert Jahre später geht es nicht mehr darum, eine Melodie möglichst kunstvoll in Szene zu setzen. In seinem Stück “Four” von 1990 untersucht John Cage den einzelnen Ton. Das Stück besteht aus nur vier Partiturseiten, die Sopräne singen drei, die Alti vier und die Tenöre und Bässe je sechs verschieden Töne in unterschiedlichen Lautstärken. Wie lang jedoch ein Ton erklingen soll, ist den Musikern selbst überlassen. Wie ein Wissenschaftler scheint Cage mit jedem einzelnen Ton zu experimentieren, aufmerksam die Reaktion mit anderen Tönen betrachtend. Diese erklingen in völliger Dunkelheit, nur das Licht der angestrahlten Fördertürme an beiden Seiten der Maschinenhalle dringt durch die Scheiben. Die Musiker haben sich im Publikum versteckt, wann und woher genau der nächste Ton auftaucht, ist eine Überraschung. Aber keine Spur von Effekthascherei, alles kommt aus der Musik: Die Dunkelheit, die ungewohnte Hörsituation lässt das Publikum selbst zu Klang-Forschern werden.

Morton Feldmans “Christian Wolff in Camebridge” von 1963, angelehnt an Begegnungen mit seinem Freund in Camebridge, funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Es ist zwar nur ein Ton, aber er ist da! Die Musiker erzeugen stehende Klänge nach einem immergleichen Muster von Tonfolgen- und Längen, die selten durch bestimmte Dynamik, das kurze Aufbäumen einer Tonfolge beispielsweise, aufgebrochen wird, so eben nie gleich klingen.

©flickr.de/Wally Gobetz
Mark Rothko: No.5/No. 22 ©flickr.de/Wally Gobetz

Feldmans “Rothko Chapel” ist eine Würdigung. 1972 wird es im Gedenken des befreundeten Malers Mark Rothko uraufgeführt, der sich ein Jahr zuvor das Leben genommen hatte. So wie seine Werke der abstrakten Feldfarbmalerei den ganzen Raum einnimmt, soll auch Feldmans Komposition für Chor, Bratsche (Axel Porath), Celesta (Sebastian Breuing) und Perkussion (Dirk Rothbrust) den gesamten Raum durchdringen. Dabei schaffen die Stimmen und das Schlagwerk eine wabernde, undefinierbare Klangfläche, auf die Celesta, Vibraphon und Bratsche einzelne Farbsprenkler werfen, bis letztere plötzlich eine volksliedhafte, wehmütige Melodie zum Schwirren des Vibraphons anstimmt.

“Memoria” spielt mit Bekanntem und Abstraktem, lässt uns ganz den Moment betrachten. In der Machinenhalle setzt das ChorWerk Ruhr dem Klang ein Denkmal und somit auch dem Denkmal selbst.

Tags in diesem Beitrag

Beitrag jetzt teilen